Bürger:innen im Dialog mit Jens Spahn – digital!

Reformwerkstatt trifft Politik: Nach Monaten, in denen die Initiative „Neustart!“ Reformideen für unser Gesundheitssystem entwickelt hat, ging es am 2. Juli darum, in einen ersten Dialog mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zu treten. Denn schließlich müssen am Ende des Reformprozesses die Verantwortlichen in der Politik die Ideen umsetzen. Wie in Zeiten der Corona-Pandemie nicht anders möglich, trafen sich zehn Bürgerbotschafter:innen der Initiative mit dem Minister zu einem virtuellen Live-Dialog. Mehr als 380 Bürger:innen verfolgten die Diskussion an ihren Bildschirmen und beteiligten sich mit 183 Fragen online an der Debatte. 

Robert Bosch Stiftung | Juli 2020
Ansicht der Videokonferenz
Robert Bosch Stiftung

Foto: Robert Bosch Stiftung

69 Prozent der Deutschen sehen Reformbedarf

Eine im Vorfeld der Diskussion vom Meinungsforschungsinstitut Forsa durchgeführte repräsentative Umfrage zu Reformvorschlägen für das Gesundheitssystem hatte ergeben, dass 69 Prozent der Bürger:innen in einigen Bereichen des Gesundheitssystems Reformbedarf sehen. Veränderungsbedarf sieht auch Bundesgesundheitsminister Spahn. Allerdings habe sich das deutsche Gesundheitssystem in der Corona-Pandemie bewährt. „Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir die Herausforderung bislang gut bewältigt. Das gelingt nur als Team, weil so viele Bürgerinnen und Bürger achtgeben und mitmachen. Ich würde mir wünschen, dass wir uns dieses Wir-Gefühl und dieses Engagement, das sich ja auch in diesem Format zeigt, über Corona hinaus erhalten. Wenn uns das gelingt, werden wir gute 20er-Jahre haben.“

Mehr Prävention und Gesundheitsbildung gewünscht 

Die Forsa-Befragung ergab, dass 89 Prozent der Deutschen der Meinung sind, dass Grundkenntnisse zum Thema Gesundheit an Kitas und Schulen vermittelt werden sollten. Wer die Debatten der Initiative „Neustart!“ verfolgt hat, weiß, dass den beteiligten Bürger:innen die Themen Gesundheitskompetenz und Prävention ebenfalls besonders am Herzen liegen. „Welche konkreten Konzepte verfolgen Sie, um Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu etablieren und umzusetzen?“, lautete die erste Frage einer Bürgerbotschafterin. Hier verwies Spahn auf das Präventionsgesetz von 2015 und den für Herbst erwarteten Präventionsbericht. „Der wird uns Hinweise geben, welche Themen in Schule und Öffentlichkeit stärker fokussiert werden müssen, wie etwa Ernährung, Regeluntersuchungen, Zahnpflege oder auch Impfungen. Bei diesen Fragen wollen wir, dass sich die Krankenkassen aktiv beteiligen – auch finanziell.“ Eine weitere Frage war, wie der Gesundheitsminister gesunde Ernährung besser fördern wolle – eine Zuckersteuer lehne er ja ab. „Auch ich bin für eine Reduzierung von Salz, Fett und Zucker in Nahrungsmitteln. Wir sind dazu im Gespräch mit den Lebensmittelkonzernen. Derzeit setzen wir noch auf Freiwilligkeit, aber wenn sich die Unternehmen nicht bewegen, werden wir Gesetze machen“, kündigte Spahn an. 

Bürger:innen fordern bessere Arbeitsbedingungen für Fachkräfte

Der Bürgerreport der Initiative „Neustart!“ spricht sich klar dafür aus, die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Gesundheitssystem zu verbessern. Auf die Nachfrage erwiderte Jens Spahn, auch er setze sich für bessere Arbeitsbedingungen für die Fachkräfte ein. „Wir haben jetzt mit der Personalbemessung und Personaluntergrenzen begonnen. Aber die Verbesserung der Bedingungen können wir nur schrittweise durchsetzen.“ Von der kommenden Mindestlohnerhöhung würden auch Pflegekräfte profitieren, vor allem in der Altenpflege. Doch es gehe nicht nur um die Bezahlung. Auch eine verbesserte Ausbildung, die Möglichkeit der Akademisierung und die Nutzung der Digitalisierung, um die Beschäftigten zu entlasten, werde den Beruf attraktiver machen. „Corona hat zumindest bewirkt, dass den Menschen, die in der Pflege arbeiten, mehr als bisher die gesellschaftliche Anerkennung zuteilwurde, die sie verdienen.“ 

Große Bandbreite an Themen und Reformideen 

Der Bürgerdialog mit Jens Spahn ist für die Initiative „Neustart!“ ein erster Schritt in der Kommunikation mit der Politik, auf den weitere folgen werden. In diesem Auftakt wurden viele Fragen aufgeworfen, die die Bürger:innen bewegen, für die es aber keine schnellen Antworten gibt. Wie kann gewährleistet werden, dass ausreichend Zeit für die Kommunikation zwischen den Patient:innen und Gesundheitsberufen bleibt? Wie können wir multidisziplinäre Primärversorgungszentren mit der Funktion von Lots:innen in den Gemeinden etablieren? Wie können wir finanzielle Fehlanreize im Gesundheitssystem beseitigen? Weitere Fragen wurden aus dem Online-Publikum gestellt: Welche Folgen hat der Klimawandel für das Gesundheitssystem? Welche Strategie gibt es im Umgang mit multiresistenten Keimen? Wie können wir die interprofessionelle Zusammenarbeit im Gesundheitswesen verbessern? Angesichts der Vielzahl und Komplexität der Themen hatte der Gesundheitsminister nicht auf alle Fragen abschließende Antworten. Doch an vielen Stellen merkte man, dass die Bürger:innen Themen ansprachen, die Jens Spahn auch mit auf seiner Agenda hat. 

Bürger:innen begrüßen digitale Patientenakte

Ein Schwerpunktthema des Ministers ist die Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung. Auch die Bürgerbotschafter:innen sprechen sich mehrheitlich für die digitale Patientenakte aus, die ab dem kommenden Jahr eingeführt wird. „Warum aber“, wollte eine Bürgerin wissen, „können die Zugriffsrechte darauf nicht von Beginn an von den Patientinnen und Patienten individuell eingestellt werden, sondern erst ab 2022?“ Dafür gebe es technische Gründe, antwortete der Minister. Er habe vor der Frage gestanden: „Verschieben wir den Start ein weiteres Mal oder nehmen wir die Einschränkung anfangs in Kauf? Ich habe mich entschieden, jetzt zu starten. Denn daran laborieren wir schon seit 15 Jahren. Die digitale Patientenakte ist der Berliner Flughafen des Gesundheitswesens – alle reden darüber, aber nichts geschieht. Jetzt beginnen wir mit der Einführung. Da die Teilnahme freiwillig ist, finde ich diese vorübergehende Einschränkung im Umgang mit den Zugriffsrechten akzeptabel.“ 

Bürgerreport spricht sich für gemeinwohlorientierte Gesundheitsversorgung aus

Ein weiterer Teil der Diskussion befasste sich mit dem Themenfeld Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung. Der Bürgerreport spricht sich klar für ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitswesen aus. „Krankenhäuser verstehen sich als Gewerbebetriebe und investieren in die Bereiche, in denen sie den höchsten Gewinn erzielen. Herr Minister, wie bekommen wir diese Fehlentwicklung in den Griff?“, fragte ein Bürgerbotschafter. „Ich verstehe die Frage. Aber nicht nur eine Klinik macht Gewinn – eine Apotheke, eine Arztpraxis oder eine Physiotherapie machen das ja auch.“ Wo das System Fehlanreize geschaffen habe, müsse nachjustiert werden. „Früher wurden Krankenhäuser nach Tagen bezahlt. Da sagte man dem Patienten am Freitag: Ach, bleiben Sie doch noch bis zum Montag. Das war damals auch ein sehr teurer Fehlanreiz.“ Ein rein staatlich gesteuertes Gesundheitswesen, wie etwa in Großbritannien, sei nicht per se besser als eines mit marktwirtschaftlichen Anreizen. 

Spahn spricht sich für Wettbewerb zwischen Krankenkassen aus

Das gelte auch für die Krankenversicherungen. „Wenn wir eine einzige staatliche Kasse haben, wird das wie früher bei der Post. Als konkurrenzloser Staatsbetrieb war sie nicht gerade serviceorientiert und kundenfreundlich. Deswegen halte ich ein gewisses Maß an Wettbewerb zwischen den Kassen für sinnvoll.“ Auf die Frage, ob denn die privilegierten Privatversicherten nicht stärker zur solidarischen Versicherung beitragen sollten, sagte Spahn: „Nicht jeder, der privat versichert ist, ist privilegiert. Das sind ja auch Polizisten und Solo-Selbstständige wie zum Beispiel Taxifahrer oder Kiosk-Besitzer.“ Spahn sagte, er sei offen für eine Neugestaltung der Krankenkassen mit funktionierendem Wettbewerb, in die die Frage der privaten Kassen mitdiskutiert werden könne. „Aber leider ist diese Diskussion sehr festgefahren. Die bräuchte einen Neustart!“

Neue Versorgungsmodelle

„Wir wünschen uns, dass der Mensch in der Gesundheitsversorgung in den Mittelpunkt gestellt wird und fordern aus diesem Grund medizinische Primärversorgungszentren mit Lotsenfunktion, um eine Versorgung aus einer Hand sicherzustellen. Wie kann es gelingen, diese Versorgungsmodelle auch in Deutschland zu etablieren?“, fragt ein Bürgerbotschafter. Das Anliegen könne er verstehen und solche Modellvorhaben, wie sie auch die Robert Bosch Stiftung fördert, seien ihm bekannt. Aus Sicht des Gesundheitsministers käme es vor allem darauf an, Akteur:innen in der Fläche zu haben, die diese „auch regelhafter umsetzen“. Es brauche immer die Menschen vor Ort, so machte es der Minister auch bei der Folgefrage zur Notfallversorgung und Hilfsfristen im ländlichen Raum deutlich: „Wir versuchen einen Rahmen zu setzen, der mehr möglich macht, als wir bisher hatten. Aber wir brauchen dafür auch die Leute, die das in der Region anbieten wollen. Dabei geht es nicht mal nur ums Geld. Wir können niemanden zwingen, sich im ländlichen Raum niederzulassen. Wenn Sie bei Neustart da gute Ideen finden, komme ich gerne darauf zurück.“ 

Diese Einladung nimmt die Initiative gern an, denn „Neustart!“ geht jetzt in die zweite, heiße Phase.  Die Think Labs entwickeln zu weiteren Themen wie Finanzierung, Governance und Transformation Konzepte, die danach im Bürgerdialog II von neuen Bürger:innen aus fünf weiteren Städten (Bremerhaven, Dresden, Magdeburg, Rosenheim und Trier) bewertet werden. Der Ergebnistransfer und der Dialog mit der Politik gehen weiter – die Bundestagswahl 2021 fest im Blick!