„Das Ziel Gesundheit muss alle Politikbereiche durchdringen“

Das 6. Think Lab unserer Reformwerkstatt analysierte, wie „Governance“ im Gesundheitssystem funktioniert – und wie sie in Zukunft gestaltet sein sollte.

Robert Bosch Stiftung | Oktober 2020

Ein komplexes System wie unser Gesundheitswesen zu reformieren, ist eine Herausforderung: Will man Fehlentwicklungen unterbinden, die tief im System verankert sind, reicht es nicht, einige Stellschrauben neu einzustellen. Es ist erforderlich, die Steuerungsmechanismen des Systems grundsätzlich zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu installieren. Unser 6. Think Lab im Rahmen der Initiative „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ befasste sich daher mit dem Thema Governance: Welche Form der Steuerung eignet sich zur Durchsetzung unserer Zielvision? Mit welchen Institutionen und Mechanismen kann das Ziel, dass das Wohl der Patient:innenn in den Mittelpunkt stellt, am zuverlässigsten erreicht werden? Inmitten der Coronavirus-Pandemie haben unsere Expert:innen in mehreren Online-Konferenzen im Oktober und November 2020 Reformansätze diskutiert. „Wir sind aktuell in der heißen inhaltlichen Phase“, sagte Dr. Bernadette Klapper von der Robert Bosch Stiftung. „Das Think Lab zum Thema Governance ist die letzte inhaltliche Experten-Veranstaltung in diesem Jahr.“

Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit

„Wie schaffen wir es, mehr Gesundheit herzustellen?“ Für Prof. Ilona Kickbusch, Leiterin des globalen Gesundheitsprogramms am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf und langjährige Managerin in der Weltgesundheitsorganisation (WHO), ist das die zentrale Herausforderung für die Governance im Gesundheitssektor. Ein Ansatzpunkt dafür sei die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung der WHO von 1986, die sie mit erarbeitete. Vieles von damals erlange jetzt stark und neu an Bedeutung. Die Charta setzt auf ein Integrationsmodell, das unterschiedliche Strategien der Aufklärung, Bildung, Beratung, der Gesundheitsselbsthilfe sowie der Präventivmedizin nutzt, um die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern. „Dabei sollten wir Gesundheit nicht als Abwesenheit von Krankheiten verstehen. Der von den Vereinten Nationen benutzte Begriff 'Wellbeing' bezieht auch soziale, lebensweltliche und Umweltaspekte mit ein“, betonte Kickbusch. Die Politik sei gefordert, gesundheitsrelevante Faktoren und Umweltbedingungen so zu gestalten, dass ein Höchstmaß an Gesundheit in der Gesellschaft erreicht werden könne. Das Ziel Gesundheit müsse alle Politikbereiche durchdringen: „Health in all policies“. Gesundheit dürfe nicht in engen nationalen oder anderen Grenzen gedacht werden, sondern ganzheitlich als „one health“.

Im Vordergrund stehen oft Partikularinteressen

Im Gegensatz zu diesem ganzheitlichen Ansatz ist das deutsche Gesundheitswesen von einer Vielzahl von Akteur:innen geprägt, die oft gegensätzliche Interessen verfolgen. Als demokratischer und pluralistischer Staat hat sich Deutschland für ein Modell mit einem hohen Anteil an Selbstverwaltung durch die beteiligten Akteur:innen entschieden. Höchstes Gremium der Selbstverwaltung ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G‐BA), in dem die Krankenkassen, Krankenhausverbände, Ärzt:innen sowie Patient:innen vertreten sind. Letztere haben allerdings kein Stimmrecht im Ausschuss. „In der Kritik steht vor allem die Orientierung an Partikularinteressen, zum Beispiel der jeweiligen Krankenkasse, und nicht der Versichertengemeinschaft insgesamt“, sagte Prof. Dr. Thomas Gerlinger von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Reformbedürftig sei die Zusammenarbeit von Selbstverwaltung und Gebietskörperschaften: „Notwendig ist eine viel engere Koordination zwischen Selbstverwaltung und den Kommunen bei der Planung von Versorgungseinrichtungen und bei der Erbringung von Leistungen. Hier könnte der öffentliche Gesundheitsdienst in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.“

Big Data als Chance für das Gesundheitswesen

Dass derzeit nicht immer das Wohl der Patient:innen im Mittelpunkt steht, illustriert Lars Roemheld vom Health Innovation Hub (hih), dem digitalen Think Lab des Bundesgesundheitsministeriums, mit dem Beispiel einer Freundin, die kürzlich unter Wehen in den Kreißsaal gebracht wurde. „In dieser Situation wurde sie gebeten, bitte noch schnell die Datenschutz-Erklärung und zwei weitere Dokumente zu unterschreiben“, sagte Roemheld. „Das hätte man im Vorfeld längst machen können, eine Geburt kommt ja meist nicht völlig unerwartet.“ Beim hih arbeitet er am Projekt „Datenspende“. Es geht darum, die riesigen Datenmengen, die im deutschen Gesundheitswesen erzeugt werden, sinnvoll zu nutzen. Sie könnten dazu dienen, valide Prädiktionsmodelle zu entwickeln, also zum Beispiel Risikogruppen für bestimmte Krankheitsbilder auszumachen und einem Ausbruch frühzeitig entgegenzuwirken. Wenn viele Menschen ihre Daten für die Forschung spenden, könnte die Gesundheitsversorgung besser gesteuert werden und stärker präventiv wirken. „Voraussetzung ist aber, dass die Menschen ihre Daten freiwillig bereitstellen. Eine opt-out Lösung, bei der die Zustimmung vorausgesetzt wird, solange die Person dem nicht widersprochen hat, hätte viele Vorteile“, sagte Roemheld. „Eine solche Lösung braucht aber eine breite Zustimmung in der Bevölkerung und müsste gut kommuniziert werden.“

Patient:innen sollten systematisch befragt werden

Big Data ist auch aus Sicht von Dr. Christof Veit, Leiter des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG), eine große Chance für das Gesundheitswesen. „Die Daten können für die, die Patienten versorgen, und für die, die diese Versorgung organisieren, von großem Nutzen sein“, sagte Veit. Zum Beispiel Informationen über die langfristigen Folgen einer Behandlung: Wie lange hat z.B. ein Implantat gehalten? Dieser Informationsfluss von Follow up Daten werde nun schrittweise aufgebaut. Auch die Befragung von Patient:innen über die Qualität der Behandlung solle künftig ein fester Bestandteil der Qualitätssicherung werden. Schließlich sind diese Daten ebenso für die Forschung von großem Wert, um aus daraus zu gewinnenden Erkenntnissen das Gesundheitswesen in seinen vielen Aspekten gezielt verbessern zu können.

Auf welcher Ebene werden Entscheidungen getroffen?

In vier separaten Arbeitsgruppen vertieften die Expert:innen des Think Labs die aufgeworfenen Fragen: An welchen Ebenen der Governance müssen Reformen ansetzen? Wie muss Governance im System angelegt sein, damit sie sich an spätere Entwicklungen anpassen kann und damit zukunftsfähig bleibt? Wie können die Instrumente der Governance durch die Nutzung besserer Daten optimiert werden? Wie können Patient:innen und Bürger:innen in die Planung von Governance und die Regulierung des Gesundheitssystems auf den verschiedenen Ebenen eingebunden werden? Welche Kompetenzen liegen bei Kommune, Region, Bundesland und Bund? Die konkreten Ergebnisse der Arbeitsgruppen werden am Ende des Arbeitsprozesses der Initiative „Neustart!“ mit in die Reformvorschläge für die Politik einfließen.

Corona-Krise öffnet Türen für Reformen

So groß die Herausforderungen einer Gesundheitsreform auch sind: Gerade jetzt gebe es die Chance dazu, sie zu meistern, betonte Ilona Kickbusch. „Wie mein Lieblings-Soziologe Ulrich Beck zurecht festgestellt hat: Innovationen kommen unter Druck zustande.“ Die Pest habe dazu beigetragen, das Mittelalter zu überwinden und die Renaissance einzuläuten. Die heutige Coronavirus-Pandemie werde ebenfalls weitreichende Folgen haben. „In Deutschland wurde noch nie so viel über 'one health' geredet und nachgedacht wie heute“, hat Kickbusch beobachtet. Auch in der EU gewinne das Vorhaben einer „Europäischen Gesundheitsunion“ angesichts der Pandemie endlich konkrete Konturen, etwa mit einer gemeinsamen Arzneimittelstrategie. Die Situation sei daher günstig, tiefgreifende Reformen anzugehen. Wichtig dabei sei es, den Transformationsprozess transparent und partizipativ zu gestalten. „Die Bürgerinnen und Bürger müssen mitgenommen werden – so wie das hier in der Reformwerkstatt schon vorbildlich gelebt wird.“