„Die Fachkräfte im Gesundheitswesen müssen Hand in Hand arbeiten“

Interview mit Dr. Gabriele Seidel, die mit dem Schwerpunkt Patientenorientierung und Gesundheitsbildung an der Medizinischen Hochschule Hannover lehrt und forscht

Robert Bosch Stiftung | März 2021

„Neustart!“: Im Rahmen Ihrer Arbeit beschäftigen Sie sich mit der Frage, wie sich in unserem Gesundheitssystem eine stärkere Patientenorientierung verankern lässt. Was steht denn im Mittelpunkt des Systems, wenn nicht die Patientinnen und Patienten?

Seidel: Eine berechtigte Frage. Natürlich stehen die Patientinnen und Patienten prinzipiell im Mittelpunkt. Doch unser Gesundheitssystem ist mittlerweile in viele Sektoren aufgeteilt, die alle ihre eigenen Arbeitsabläufe haben und nicht immer gut miteinander kommunizieren. Alle beteiligten Fachkräfte arbeiten in Strukturen, die ihnen nur ein begrenztes Zeitbudget für die Patienten und Patientinnen lassen und diese fühlen sich dann oft nicht ausreichend informiert und beteiligt. Die Herausforderung ist, die Gesundheitsprofessionen dazu zu motivieren, untereinander besser zu kommunizieren und die Patientinnen und Patienten besser einzubeziehen.

„Neustart!“: Ist es nicht vor allem Aufgabe der Ärzte und Ärztinnen, die Menschen, die bei ihnen in Behandlung sind, zu informieren?

Seidel: Das geschieht ja auch, aber meist ist einem sehr kleinen Zeitfenster. Dann gehen die Patienten und Patientinnen nach Hause und haben mindestens die Hälfte wieder vergessen. Wenn sich die Betroffenen die Fachbegriffe merken konnten, suchen sie dann meist im Internet danach und treffen dort auf eine Flut von Informationen, bei denen für sie schwer zu entscheiden ist, welche richtig sind und welche nicht. Hier brauchen die Menschen Unterstützung durch Angebote, die leicht verständlich sind und die sie in die Lage versetzen, vernünftige Entscheidungen zu treffen.

Dr. Seidel

Foto: Frau Dr. Seidel

„Neustart!“: Solch ein Angebot soll das neue nationale Gesundheitsportal sein. Was halten Sie davon?

Seidel: Es ist ja noch im Aufbau, daher kann ich mir noch kein Urteil erlauben. Aber es gibt einige vielversprechende Ansätze: Gut ist, dass die Verantwortlichen im Vorfeld mit vielen Akteuren und Akteurinnen gesprochen haben, um verschiedene Perspektiven einzubeziehen. Auch der Ansatz, dass dort nur evidenzbasierte Informationen bereitgestellt werden, ist richtig. Jetzt muss man dem Vorhaben etwas Zeit lassen und schauen, wie gut die Umsetzung funktioniert. Es gibt ja bereits andere gute Internet-Angebote wie die von der Stiftung Gesundheitswissen und dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Wichtig ist aber auch, dass es für die Menschen vor Ort in ihrer Kommune ein Angebot gibt, das sie wahrnehmen können.

„Neustart!“: Wie können die kommunalen Strukturen verbessert werden?

Seidel: Ein Ansatz, den wir auch im Rahmen von „Neustart!“ diskutiert haben, wäre es, das öffentliche Gesundheits- und Sozialwesen besser zu verschränken, denn gesundheitliche Probleme haben häufig Ursachen, die im sozialen Umfeld liegen. In Nordrhein-Westfalen gibt es zum Beispiel kommunale Gesundheitskonferenzen, in denen ganz unterschiedliche Akteure und Akteurinnen zusammenkommen, um gemeinsame Lösungen für die Gemeinde zu entwickeln. Das ist ein guter Ansatz, den es leider noch nicht in allen Bundesländern gibt. Ein anderer guter Ansatz sind lokale Primärversorgungszentren, bei denen die verschiedenen Gesundheitsprofessionen – Ärzte und Ärztinnen, Therapeuten und Therapeutinnen sowie Pflegende– Hand in Hand arbeiten und die auch mit sozialen Angeboten vernetzt sind.

„Neustart!“: Viele Bürger und Bürgerinnen fordern eine bessere Gesundheitsbildung der Bevölkerung. Wird das Thema Gesundheit in der Schule nicht ausreichend behandelt?

Seidel: Es gibt durchaus eine ganze Reihe von Angeboten in Kitas und Schulen. Die haben allerdings oft Projektcharakter und sind nicht unbedingt auf Dauer angelegt. Ein Schulfach Gesundheit könnte eine Lösung sein. Es gibt aber auch Experten und Expertinnen, die sagen, dass es nicht unbedingt ein eigenes Fach geben muss – die Grundlagen gesunder Lebensführung können auch in anderen Fächern vermittelt werden. Mir ist es wichtig, dass die Wissensvermittlung nicht mit der Schule aufhört und dass wir zum Beispiel auch Menschen am Arbeitsplatz oder im Pflegeheim erreichen. Es geht darum, die Eigenverantwortung zu stärken: Was können wir selbst tun, um gesund zu bleiben.

„Neustart!“: Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit Experten und Expertinnen und Bürger und Bürgerinnen im Rahmen der Initiative Neustart erlebt?

Seidel: Es ist immer interessant zu sehen, mit welcher Perspektive sich andere Fachleute den Themen zuwenden, mit denen man sich auch selbst beschäftigt. Darüber hinaus ist es immer gut, partizipativ vorzugehen. Die Bürger und Bürgerinnen haben sich mit ihren Erfahrungen und Bedürfnissen sehr gut eingebracht und soweit ich das erlebt habe, gab es keine Berührungsängste. Die Diskussionen waren aus meiner Sicht immer offen, respektvoll und kooperativ.