„Finanzielle Fehlanreize gefährden unsere Gesundheitsversorgung“

Experte im Interview: Prof. Dr. Gian-Domenico Borasio, Professor für Palliativmedizin an der Universität Lausanne

Robert Bosch Stiftung | März 2020
Prof. Dr. Bosario
Foto: Henning Angerer

„Neustart!“: Herr Borasio, Sie sind Palliativmediziner, haben derzeit eine Professur in Lausanne, waren zuvor in München und kennen daher auch das deutsche Gesundheitswesen gut. Werden Menschen, die auf Palliativmedizin angewiesen sind, in Deutschland derzeit ausreichend gut versorgt? 

Gian-Domenico Borasio: Die Palliativmedizin in Deutschland ist im internationalen Vergleich gut aufgestellt. Vor allem dank der flächendeckenden Einführung der SAPV Teams – das sind multiprofessionelle Teams für „spezialisierte ambulante Palliativversorgung“. Sie begleiten Menschen über längere Zeiträume zu Hause, die ansonsten stationär versorgt werden müssten. Das erspart viele unnötige Krankenhausaufenthalte, die weder für die Versorgung noch für die Menschen von Vorteil sind. 

„Neustart!“: Welche Professionen sollten aus Ihrer Sicht an der palliativen Versorgung mitwirken? 

Gian-Domenico Borasio: Die Professuren, die wir in München und Lausanne eingerichtet haben, richten sich an insgesamt fünf Berufsgruppen, die meines Erachtens mindestens beteiligt sein sollten. Das sind zum einen die medizinischen Berufe, die sich in die drei Lebensabschnitte aufteilen: Palliativmedizin für Kinder, für Erwachsene sowie geriatrische Palliativmedizin. Aber auch die vier wichtigsten nicht-ärztlichen Berufe sind berücksichtigt: Pflege, soziale Arbeit, Seelsorge und Psychologie. Keiner dieser Berufe ist vollständig ersetzbar. Die Herausforderung ist es, diesen multiprofessionellen Ansatz in das gesamte Gesundheitssystem und in die Gesellschaft zu tragen – Stichwort „caring communities“. 

„Neustart!“: Sie kritisieren, dass viele Patient:innen am Lebensende übertherapiert werden. Wie kommt es dazu? 

Gian-Domenico Borasio: Tatsächlich werden in den letzten Lebensjahren eines Menschen massiv Ressourcen für unnötige diagnostische und therapeutische Maßnahmen verschwendet. Sie bringen den Akteuren viel Geld, aber dem Patienten häufig nur Belastungen und Leid. Nachweislich bewirken einige dieser Therapien, dass die Patienten früher sterben. Etwas überspitzt kann man daher sagen: Übertherapie am Lebensende ist die häufigste Form der aktiven Lebensverkürzung in Deutschland. 

„Neustart!“: Was kann dagegen unternommen werden? 

Gian-Domenico Borasio: Wir brauchen eine patientenzentrierte Versorgung, die die Nöte, Wünsche und Ängste der Patienten und ihrer Familien in den Mittelpunkt stellt. Derzeit oszillieren wir zwischen unnötiger Übertherapie und therapeutischem Nihilismus, vor allem für sozial schwache Gruppen, bei denen es eine Unterversorgung gibt. Um dies abzustellen, müssen wir die finanziellen Fehlanreize abschaffen, die es in unserem Gesundheitssystem derzeit gibt. Das wird nur durch eine grundsätzliche Neuorientierung möglich sein. Deswegen ist es eine gute Sache, dass wir im Rahmen dieser Initiative über einen Neustart diskutieren.

„Neustart!“: Vor kurzem hat das Bundesverfassungsgericht das Verbot der „geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ für verfassungswidrig befunden. Wie beurteilen Sie das? 

Gian-Domenico Borasio: Der Paragraf 217 (des Strafgesetzbuches, Anm. d. Red.) hatte die ärztliche Suizidhilfe kriminalisiert. Es war überfällig, dass das Bundesverfassungsgericht dies nun korrigiert hat. Nur befürchte ich, dass die Richter vielleicht etwas über das Ziel hinausgeschossen sind. Zwar ist die Selbstbestimmung des Menschen, die bei der Entscheidung betont wurde, ein wichtiges Gut. Doch auf der anderen Seite gibt es auch eine Fürsorgepflicht des Staates. Bei der assistierten Selbsttötung haben wir es in den allermeisten Fällen mit alten, schwerstkranken und zum Teil kognitiv eingeschränkten Menschen zu tun. Ich hoffe, dass in der notwendigen gesellschaftlichen Diskussion zum Thema Sterbehilfe der Fürsorge auch in Zukunft ein ausreichend hoher Stellenwert beigemessen wird.