Wer sind die Patient:innen von morgen - und was brauchen sie?

Das dritte Think Lab der Initiative „Neustart!“ untersucht, wie sich die Zielgruppen des Gesundheitswesens verändern.

Robert Bosch Stiftung | November 2019

Globale Megatrends verändern unsere Gesellschaft, betreffen alle Menschen und die Gesundheit. Die Expert:innen des dritten Think Labs der Initiative „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ waren sich daher einig: „Den“ Patienten gibt es genauso wenig wie „den“ Bürger. Das Gesundheitssystem muss sich weiterentwickeln, um passende Lösungen für seine Zielgruppen zu finden, die zunehmend speziellere Bedürfnisse aufweisen. Um zukunftsfähige Ideen für das Gesundheitswesen zu diskutieren, hatte die Robert-Bosch-Stiftung am 20. und 21. November rund 20 Expert:innen unterschiedlicher Fachrichtungen in die Berliner Hertie School geladen.

Zu den Einflussfaktoren, die unsere Lebensweise verändern, zählen demografischer Wandel, Migration, Klimawandel, Individualisierung, Digitalisierung sowie Bio- und Gentechnologie. „Diese Faktoren beeinflussen einander und verstärken sich zum Teil“, hob Mujaheed Shaikh, Professor of Health Governance der Hertie School, hervor. „Wir sind möglicherweise nicht in der Lage, für jeden Faktor oder seine Wechselwirkungen und seine Auswirkungen auf die Gestaltung und Bereitstellung der Gesundheitsversorgung vorherzusagen und zu planen. Aber wir können zumindest damit beginnen, vorauszudenken, das Gesundheitssystem so vorzubereiten und zu entwickeln, dass es flexibel genug ist, um zukünftige Probleme, wie sie auftreten, anzugehen und auf die Bedürfnisse und Anforderungen der Menschen einzugehen.“

Der Einsatz Künstlicher Intelligenz kann die Gesundheitsversorgung verbessern

Obwohl der demografische Wandel mit Zunahme des durchschnittlichen Lebensalters die Gesellschaft längst prägt, sei die Gesundheitsversorgung noch immer nicht ausreichend auf ältere Patient:innen eingestellt. Dies betonte Professor Stefan Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité. In Zukunft müsse man mit einer weiter steigenden Zahl von Menschen hohen Alters rechnen und damit auch mit der Zunahme von Phänomenen wie Multimorbidität, d.h. Auftreten mehrerer Krankheiten bei einer Person.  Professor Willich berichtete von Ergebnissen einer Untersuchung in einem Pflegeheim, nach denen manche von Multimorbidität betroffenen Menschen mit 10 oder mehr Arzneimitteln gleichzeitig behandelt wurden. Die Polymedikation habe bei einigen Betroffenen zu Apathie geführt. „Als man bei ihnen die Medikamente absetzte, waren sie wieder wach und ansprechbar“, sagte Willich.

Bei der notwendigen Optimierung von Medikationen kann der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) helfen. „Gibt man alle verfügbaren Arzneimitteldaten in ein Programm ein, lassen sich nach Auswertung die bereits bekannten unerwünschten Wechselwirkungen von Medikamenten leichter erkennen und Fehlmedikation vermeiden“, betonte Willich. Von einem systematischen KI-Einsatz sei das Gesundheitssystem derzeit jedoch noch weit entfernt. „KI kann aber unsere Gesundheitsversorgung grundlegend verbessern“. Ziel sei es, mit KI das medizinische Personal von Standard-Aufgaben zu entlasten, um mehr Zeit für die Zuwendung und Versorgung von Patient:innen zu gewinnen.

Engagement für chronisch Kranke sollte gestärkt werden

Besondere Aufmerksamkeit erfordern Zielgruppen mit starken Belastungen, etwa Menschen mit Behinderung und chronisch Kranke. Als Folge der steigenden Lebenserwartung nehmen altersassoziierte Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus, viele Krebserkrankungen oder Demenzen weiter zu. Daneben trägt der medizinische Fortschritt zur Zunahme der Prävalenz chronischer Erkrankungen bei. Die Zahl chronisch kranker Menschen, die in den vergangenen Jahren bereits gestiegen ist, wird also weiter zunehmen.

Unterstützung für diese Zielgruppen müsse jedoch nicht in allen Fällen vom Staat organisiert sein, sagte Birgit Dembski, Vorstandsmitglied der BAG Selbsthilfe. „Patienten, die sich selbst gut organisiert haben, unterstützen sich heute schon in vielen Netzwerken gegenseitig. Das Internet ist dabei gerade für Menschen mit seltenen Krankheiten ein wichtiges Werkzeug, sich bundesweit oder international zu organisieren“, sagte Dembski. „Das bedeutet aber nicht, dass sich der Staat hier zurückziehen kann. Vielmehr sollte er das Engagement der Betroffenen durch geeignete Strukturen unterstützen.“

Auch auf die wachsende gesellschaftliche Gruppe von Personen mit Migrationshintergrund sei das Gesundheitssystem nicht ausreichend eingestellt, sagte Dr. Ali Ekber Kaya vom Psychiatrischen Zentrum des Landesvereins für Innere Mission in Rickling, Schleswig-Holstein. „Viele Menschen, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, haben Krieg oder Folter erlebt und leiden unter Posttraumatischer Belastungsstörung.“ In Rickling gibt es ein spezielles Behandlungsangebot für Türkisch, Kurdisch und Arabisch sprechende Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden. Einer Behandlung durch deutsche Ärzt:innen stünden jedoch häufig sprachliche und kulturelle Hürden im Weg. „Uns liegt eine lange Warteliste von Menschen aus ganz Deutschland vor, die zu uns kommen wollen. Das zeigt, dass es bundesweit Bedarf an kultursensitiven Einrichtungen gibt, der derzeit nicht annähernd gedeckt wird.“

Soziale Lebenswelt und psychische Verfassung in das Gesundheitswesen integrieren

Während einige Patient:innengruppen besondere Anleitung benötigten, um ihre eigene Gesundheitskompetenz zu stärken, wachse in Teilen der Gesellschaft die selbständig erworbene Gesundheitskompetenz. Das betonte Dr. Gottfried Roller, Leiter des Kreisgesundheitsamtes Reutlingen und Lehrbeauftragter an der Universität Tübingen. Diese in einer Studie des vom Zukunftsforscher Matthias Horx geleiteten Zukunftsinstituts Frankfurt „Gesundheitsmaximierer“ genannten Bürger:innen achteten zunehmend selbst auf eine gesunde Lebensführung. „Die Gesundheitsmaximierer greifen auf Maßnahmen zurück, die über das allgemeine Verständnis von üblichen Gesundheitsdienstleistungen hinausgehen. Bei gesundheitlichen Problemen informieren sie sich wie die Hobby-Mediziner umfassend im Internet, damit sie mit ihrem Arzt über die Behandlungsstrategie diskutieren können“, sagte Roller. Diese Gruppe sei auch empfänglich für die Präventionsprogramme und Health-Apps auf dem Smartphone.

Um den Menschen eine intensivere Beteiligung an gesundheitsrelevanten Entscheidungen zu ermöglichen, müsse mehr für die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung getan werden, forderte Doris Schaeffer, Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld und Sprecherin des Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz. „Geringe Gesundheitskompetenz bringt für die Gesellschaft Herausforderungen mit sich, denn sie hindert sie daran sich für ihre Gesundheitserhaltung zu engagieren und schränkt die Möglichkeiten der Teilhabe ein. Dem gilt es, auf allen Ebenen mit einer Offensive für ein nutzerfreundliches und gesundheitskompetentes Gesundheitssystem zu begegnen.“

Einig waren sich die Expert:innen darin, dass im Gesundheitssystem der Zukunft nicht Krankheiten, Medikamente oder Künstliche Intelligenz im Fokus stehen sollten, sondern der Mensch mit seinen individuellen gesundheitlichen Bedürfnissen. Im Sinne der biopsychosozialen Medizin, sagte Dr. Ali Ekber Kaya, müsse die Gesundheitsversorgung nicht nur die organischen Funktionen des Menschen mit einbeziehen, sondern auch seine psychische Verfassung und soziale Lebenswelt. „Vielen Menschen im Pflegeheim würde eine Musiktherapie weit mehr bringen als eine weitere Pille zu schlucken.“

Mit der Reformwerkstatt will die Robert Bosch Stiftung erreichen, dass der Mensch im Mittelpunkt des Gesundheitssystems steht, betonte Dr. Bernadette Klapper. Die Bereichsleiterin Gesundheit der Stiftung kündigte die kommende Phase der Reformwerkstatt an: „In einem nächsten Schritt treffen die Analysen der Experten auf die Meinungen und Bedürfnisse der Bürger. Aus unseren Bürgerdialogen ist ein Bürgerreport hervorgegangen. Die Ideen des Bürgerreports werden die Experten auswerten und diskutieren. Auf das Ergebnis dürfen wir gespannt sein.“