Wie funktioniert die Gesundheitsversorgung im Jahr 2030?

Beim vierten Think Lab der Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen entwickelten Expert:innen Vorschläge für die Zukunft der Leistungserbringung. 

Robert Bosch Stiftung | März 2020

Die Initiative „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ ist in eine neue Runde gegangen: Beim vierten Think Lab diskutierten rund 25 Expert:innen die Leistungserbringung unseres Gesundheitssystems in der Hertie School in Berlin-Mitte. Dabei wurden die Wünsche der Menschen, die sich an den Bürgerdialogen der Stiftung beteiligt hatten, aufgegriffen. „Die Bürger wollen Qualität und individuelle Zuwendung“, sagte Dr. Bernadette Klapper, Bereichsleiterin Gesundheit der Robert Bosch Stiftung, zu Beginn der zweitägigen Veranstaltung am 5. März. „Sie erwarten medizinisch-pflegerische Leistungen auf hohem Niveau und vor Ort. Es soll aber nicht nur um die Behandlung einzelner Krankheiten gehen, sondern vor allem um die Gesundheit des Menschen.“ 

Akteure der Gesundheitsversorgung sind nicht gut genug vernetzt 

Das deutsche Gesundheitssystem habe auf den ersten Blick einen guten Stand, sagte Prof. Dr. Mujaheed Shaikh von der Hertie School in seinen einleitenden Worten. Aber es komme darauf an, woran es gemessen wird und mit welchen anderen Systemen man es vergleiche. „Im Bereich Leistungserbringung gibt es einige offene Punkte, zum Beispiel übertrieben viele Überweisungen, mangelnder Zugang zu Reha-Leistungen, eine Diskrepanz zwischen der öffentlichen Gesundheitspflege und dem Rest des Systems und mangelndes Gesundheitswissen in der Bevölkerung“, sagte Shaikh. „Zudem liegt der Fokus oft auf den Leistungsanbietern und nicht auf der am Patienten orientierten Leistungserbringung. Diese Themen sind nicht neu, aber bisher fehlen umfassende und mutige Reformen.“ 

Prof. Dr. Doris Schaeffer hob die „enorme Fragmentierung“ des deutschen Gesundheitssystems als Herausforderung für alle Reformbemühungen hervor. In ihrem Impulsvortrag „Prinzipien der Leistungserbringung für die zukünftige Gesundheitsversorgung“ nannte sie als erstes Gebot die patient:innenzentrierte Versorgung. „Dabei müssen wir das Zuhause als zentralen Ort der Krankheitsbewältigung anerkennen - dies sowohl angesichts des großen Anteils chronischer Erkrankungen wie auch und erst recht angesichts der rasch um sich greifenden Corona Virus Krankheit (Covid 19)“, sagte Schaeffer. 

Wichtig sei es, eine lückenlose und ineinandergreifende Versorgung zu gewährleisten. „Je nach Bedarf müssen medizinische, pflegerische, präventive, rehabilitative, psychosoziale und palliative Leistungen koordiniert werden und zum Wohle des Patienten zusammenfließen – auch in der häuslichen Umgebung.“ Ein weiteres Prinzip sei es, der Prävention und der Förderung von Gesundheitskompetenz hohe Bedeutung einzuräumen: „Das gilt speziell für die Gesundheitskompetenz, also die Fähigkeit zum souveränen Umgang mit Information; sie ist gerade jetzt angesichts der Corona Pandemie besonders wichtig.“

Gesundheitsförderung in sozial benachteiligten Gegenden verbessern

Bei der Einteilung der Expert:innen in sechs Arbeitsgruppen im weiteren Verlauf des Think Labs war somit auch „Gesundheitsförderung und Prävention“ einer der sechs thematischen Schwerpunkte. Die anderen Arbeitsgruppen befassten sich mit „Primärversorgung“, „Spezialversorgung“, „Notfallversorgung“, „Heil-, Hilfs- und Arzneimittel“ sowie „Interaktion und Beziehung“. Beim Thema Gesundheitsförderung und Prävention waren sich alle einig, dass das Thema in Kitas und Schulen vergleichsweise gut behandelt werde. Erwachsene und hier besonders die älteren Personen, die noch dazu in sozial benachteiligten Gegenden leben, erreiche man allerdings zu wenig. „Hierfür brauchen wir Menschen, die sich gut im Quartier auskennen und die die Belange der Bewohner und Bewohnerinnen verstehen und sich um diese kümmern können“, so Prof. Dr. Claudia Hornberg von der Universität Bielefeld. „Menschen, die in ihrer Nachbarschaft gut vernetzt sind und die ein gewisses Standing haben, müssen als Vorbilder gewonnen werden. Sie können die Menschen vor Ort dabei unterstützen, Zugang zu Präventions- und Gesundheitsförderungsleistungen zu finden.“ 

Auch "Community Health Nurses" können wichtige Beteiligte im Quartier sein, um das Thema Prävention voranzubringen, ergänzte Prof. Dr. Corinna Petersen-Ewert von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. „Die Hausärzte allein können diese Aufgabe nicht bewältigen.“ Der Fokus der Arbeit müsse insbesondere auf Verhältnisprävention liegen. Die Maßnahmen müssten zu den Menschen in ihren Lebenswelten passen, sie sollten alle Lebensphasen und sozialen Gruppen berücksichtigen und alle einschließen. Schon jetzt gebe es einige Akteure, die sich für Gesundheitsförderung einsetzten, so Petersen-Ewert. „Es mangelt nicht an Akteuren; sondern an der Umsetzung. Die bestehenden Organisationen müssen besser ausgestattet und befähigt werden, insbesondere auf der kommunalen Ebene.“

Sozialraumbezogene Primärversorgungszentren als Zukunftsmodell

Auch die Arbeitsgruppe „Primärversorgung“ betonte die Bedeutung einer zentralen Anlaufstelle für Bürger:innen jeden Lebensalters in der Nachbarschaft. Das sozialraum- und quartiersbezogene „Primärversorgungszentrum“ der Zukunft bietet ein Angebot ärztlicher, pflegerischer, sozialer und (psycho-)therapeutischer Leistungen. Es versteht sich nicht als Krankenhaus, sondern als „Lebenszentrum“. Die verschiedenen Berufsgruppen arbeiten hier auf Augenhöhe im Interesse der Patient:innen und der Bevölkerung der Region zusammen. „Im besten Fall entfaltet es eine Sogwirkung, weil die Menschen das Gefühl haben: 'Hier wird mir geholfen!'“, sagte Prof. Dr. Raymond Voltz, Direktor des Zentrums für Palliativmedizin an der Uniklinik Köln. Um ein derartiges Angebot aufbauen zu können, müsse allerdings die Finanzierung vollständig neu organisiert werden: „Die Strukturverantwortung und Steuerungskompetenz muss dann bei den Regionen liegen.“ 

Für sozialraumbezogene Primärversorgungszentren sprach sich auch die Gruppe „Interaktion und Beziehung“ aus. Welche Leistungen dort angeboten würden, müsse sich am Bedarf vor Ort ausrichten. Allerdings könne nicht an jedem Ort der Republik die gleiche Leistungsdichte angeboten werden. „Heute ist es zum Beispiel so, dass jeder Landrat in Bayern in seinem Landkreis eine Geburtenstation anbieten will“, sagte Prof. Dr. Marcus Krüger, Chefarzt der Frühgeborenenstation an den Münchener Kliniken Harlaching und Schwabing. Das sei teuer und könne die Qualität beeinträchtigen. Daher diskutierte die Gruppe im Laufe der Veranstaltung unter anderem über folgende Fragen: Wie nah sollte eine gute Versorgung sein? Welche Anfahrtswege sind vertretbar? In welchen Fällen ist eine aufsuchende Unterstützung wirkungsvoll? Wie gehen wir mit den begrenzten Ressourcen um? Wer soll über Ressourcenallokation entscheiden? 

Bürger:innen diskutieren die Vorschläge der Expert:innen weiter 

Im Mittelpunkt des zweiten Tages stand eine Simulation mithilfe der „Persona-Technik“. Die Arbeitsgruppen diskutierten die individuelle Gesundheitssituation von drei fiktiven Personen und wie diesen im Jahr 2030 idealerweise begegnet werden sollte: den siebenjährigen Maximilian, der mit dem Skateboard verunglückt ist; Fatma aus Syrien, die unter Bauchschmerzen leidet und den 81-jährigen Friedemann, bei dem Darmkrebs diagnostiziert ist. In der Simulation tauchten viele Fragen auf, die wiederum mit den Bürger:innen im nächsten Dialog der Stiftung diskutiert und beantwortet werden sollen. Denn: „So wichtig die Vorschläge der Experten sind, sie sollten eine Antwort auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger sein“, betonte Dr. Bernadette Klapper.