„Wir müssen Gesundheit in allen Bereichen der Gesellschaft mitdenken“

Experte im Interview: Prof. Dr. med. Tobias Esch, Leiter des Instituts für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten-Herdecke

Prof. Dr. Tobias Esch
Foto: Henning Angerer

„Neustart!“: Wie bewerten Sie die Vorschläge für die Reform des Gesundheitswesens, die aus den Bürger-Dialogen hervorgegangen sind?

Tobias Esch: Sie kommen von denjenigen, für die das Gesundheitssystem gemacht ist, von den Bürgern. Ich setze mich schon seit längerem dafür ein, dass die Bürger und Patienten mehr zu Wort kommen sollten. Und zwar in ihrem Narrativ, in ihrem Wortlaut. Wir müssen nicht immer alles in unserem Fachsprech ausdrücken. Daher sind die Vorschläge aus meiner Sicht auf jeden Fall relevant und anregend.

„Neustart!“: Halten Sie die Vorschläge für realistisch?

Tobias Esch: Einige Punkte sind grundsätzlich machbar, andere sind eher idealistisch. Spannend finde ich, dass die Bürger der Prävention und der Gesundheitsbildung einen so hohen Stellenwert einräumen. Ich finde den Grundsatz: 'Wir müssen die Gesundheitskompetenz der Bürger stärken', absolut richtig. Das ist übrigens auch ein Anliegen der Weltgesundheitsorganisation, die fordert, Gesundheit in allen Bereichen der Gesellschaft mitzudenken. Gesundheitsbildung kann nicht nur Aufgabe der Ärzte sein, sondern muss in der Schule anfangen. Diese Forderung unterstütze ich zu 100 Prozent.

„Neustart!“: Bei welchem Vorschlag sind Sie eher skeptisch?

Tobias Esch: Die Idee, dass die Akteure des Gesundheitssystems keine Gewinne erwirtschaften sollen, halte ich für sehr idealistisch. Dahinter steht die Idee, es sei besser, wenn der Staat das Gesundheitssystem übernehme und lenke. Wenn wir uns die Gesundheitssysteme der Welt anschauen, ist das aber kein Automatismus. Der Vergleich zeigt: Es gibt staatlich gelenkte Systeme, in denen wir zumindest in Teilen große Probleme feststellen können. Hier existiert zwar häufig weniger Ungleichheit, aber auch privatwirtschaftlich organisierte Systeme, die staatlich kontrolliert werden, können gerecht organisiert werden. Außerdem sind diese Systeme oft innovativer und mitunter effizienter. De facto sind die meisten Gesundheitssysteme weltweit Mischformen – aus gutem Grund.

„Neustart!“: Welche Idee würden Sie gerne noch in die weitere Diskussion mit einbringen?

Tobias Esch: Die Digitalisierung ist eine große Chance für das Gesundheitswesen, aber wir müssen sie auch richtig nutzen. In Harvard habe ich an einem System mitgearbeitet, das heute schon in Ländern wie Schweden, Estland und großen Teilen der USA eingesetzt wird: 'Open Notes'. Es ist ein Gesundheitsportal, bei dem ich mich – wie beim Online-Banking – mit Passwort einlogge und dann Zugriff auf alle meine Daten habe. Die Patienten können alle Diagnosen und sogar die Karteikarteneinträge der Ärzte nachlesen. Die meisten sind mit dieser Transparenz keineswegs überfordert, sie werden eher dazu aktiviert, sich bewusst mit ihrem Zustand zu befassen. In den Ländern, in denen dieses System bereits läuft, führt es dazu, dass die Gesundheitskompetenz der Betroffenen nachweislich steigt – wie auch das Vertrauen in die Ärzte und das System insgesamt. Wir sollten auch im deutschen Gesundheitswesen die Chancen nutzen, die die Digitalisierung uns bietet, das System transparenter und interaktiver zu machen.

Die Idee, Gesundheitszentren einzuführen, in denen Ärzte verschiedener Fachrichtungen – aber auch andere Gesundheitsberufe – gleichberechtigt zusammenarbeiten, würde ich unterstützen. Ein anderer Vorschlag war, Gesundheit als Schulfach einzuführen. Auch das können wir von mir aus gerne sofort ausprobieren.